Ein unangenehmes Geräusch kriecht durch das Rattern der Tram der Linie M 10. Rüdiger auf dem Sitzplatz neben mir zerkratzt mit den brüchigen Fingernägeln seiner linken Hand die fleckige Haut seiner rechten. Danach umgekehrt.
Dass er Rüdiger heißt, konnte ich mit einem Blick auf den Behördenbrief erhaschen, der auf seinem Schoß liegt. Rüdigers Hände krabbeln wie aufgescheuchte Tierchen auf ihm herum. Wo sie auf Haut stoßen, krallen sie sich fest und beginnen zu schaben. Am Kopf angekommen, widmet sich seine rechte Hand der Frisur. Rhythmisch fährt sie durch sein gegeltes, schulterlanges Haar. Von dort wandert die Hand weiter zum Gesicht, das sie in einer unkoordinierten Massage zu einer Grimasse modelliert.
Zwischendurch wirft Rüdiger verstohlene Blicke in alle Richtungen, wie um zu sehen, ob sein Verhalten auffällt. Ich rutsche auf meinem Platz hin und her. Wie eine Marionette hänge ich an seinen fuchtelnden Händen. Um mich abzulenken, starre ich auf die Fensterscheibe neben uns. Das ist aber keine gute Idee. Denn dort ist Rüdigers Spiegelbild zu sehen. Wenn ich ihn dort sehen kann, kann auch er mich sehen. Ich möchte aber nicht, dass er sich beobachtet fühlt, ich möchte ihn nicht reizen.
An der Haltestelle Winsstraße steigt Rüdiger aus. Zwanzig Minuten Martyrium sind vorbei. Kurz darauf vibriert mein Handy in der Jackentasche. Ich versuche hineinzugreifen und das Ding herauszufischen. Es geling mir nicht – meine Hände zittern. Rüdiger ist gar nicht fort, er ist in mich hineingeschlüpft, er hat sich meine Hände wie Handschuhe übergestreift. Ein Packen Notizzettel, den ich anstelle des Handys ergriffen habe, rieselt zu Boden. Die Frau, die Rüdigers Platz eingenommen hat, sieht mich seltsam von der Seite an. Dann rückt sie von mir ab.
"Berlin-Alamo": Diese Blog-Serie ist eine Ästhetisierung des Unbehagens, eine bedingungslose Kapitulation, so politisch wie das Gefühl des Betrogen-worden-Seins nach dem Besuch eines Blockbusters im Multiplex-Kino. Der Titel ist geklaut: von einem Super-8-Film von Knut Hoffmeister von 1979, der wiederum den Sound des Durchhaltedramas mit John Wayne geklaut hat. Darin: West-Berlin, Neon-Dschungel, Martin Kippenberger mixt einen Drink, Polizisten vor dem "Pressecafé" am Bahnhof Zoo, Straßenkampf und Currywurst. In der "taz" hieße die Serie Berliner Szenen und wäre je Beitrag 30 Euro Honorar wert.
4 Kommentare:
In sehr jungen (und unbedarften) Jahren war ich in einen Rüdiger verliebt, der morgens mit dem selben Bus zur Schule fuhr wie ich.
Seitdem habe ich nie wieder einen Rüdiger kennen gelernt (ich kannte ihn auch damals nicht...).
Ich möchte nun einerseits hoffen, dass es sich bei dem von Ihnen genannten Mann nicht um meinen Rüdiger von damals handelt. Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass Namen wie Rüdiger, Hildemar, Gottlieb und dergleichen häufig als gleichbedeutend mit besonders unangenehmen/peinlichen Zeitgenossen gelten. Ich möchte nun einfach mal behaupten, dass es sehr wohl auch nette Menschen mit diesen Namen gibt und hiermit für diese selten gewordene Spezies von Herrenvornamen eintreten.
Wie wäre es mit (Name von der Redaktion geändert)?
Herzlichst, Ihr/e M.
Seit die Kevins und Janas in meinem Viertel von den bitterbösen Bionade-Eltern in die Außenbezirke weggentrifiziert wurden, hört man immer öfter Otto und Paul als Namen über die Spielplätze gellen. "Rüdiger" wird dagegen kein Comeback erleben - Umlaute machen sich nicht so gut, wenn der Racker global konkurrenzfähig werden soll.
hallo,
der film Berlin/Alamo liegt
(allerdings in einer ziemlichen schrottversion, als QT-Stream)
auf
http://rflxe.org/mov/berlin-alamo.php
best
Ich habe die Seite mit dem Video schon verlinkt. Aber trotzdem Danke für den Hinweis!
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